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Schaurig süsse Früchtchen

Gehören Sie zu den Leuten, welche regelmässig Horror- oder apokalyptische Endzeitfilme konsumieren und den inszenierten Gräuel sogar auf eine Art geniessen können?

Dann hätten Sie im Mittelalter zu Unterhaltungszwecken vermutlich auch ab und an dem Fall einer Guillotine beigewohnt.

Das durfte ich jedenfalls erfahren, als ich mit Freunden «gelustwandelt» bin am St.Galler Altstadtrand und den Worten der eloquenten Führerin des St.Gallen-Bodensee-Tourismus gelauscht habe. Sie hat uns bei der Gelegenheit auf die Ergebnisse einer interessanten Studie aufmerksam gemacht. Gemäss der Interpretation der Forschenden, sollen Grusel-Liebhaber*innen leichter zurechtkommen mit den Einschränkungen und Gefahren, die sich durch die Corona-Krise ergeben, da ihr Gehirn quasi besser trainiert sei auf Bad News.

simone hengartner

Eine andere, zwar unwissenschaftliche, aber fruchtbare Theorie, dient mir nun der Uminterpretation. Dahinter steckt zudem eine empirische Grundlage: Die menschliche Gemeinschaft ist vergleichbar mit einer Fruchtschale in Bezug auf ihre psychosomatische Grundkonstitution. Da gibt es den Orangen-Typ mit dicker Schale und weichem Kern, den Aprikosen-Typ mit dünner Schale und hartem Kern, den Kiwi-Typ mit dünner Schale und weichem Kern und ein paar weitere.

Kiwi-Typen verzichten freiwillig auf Stimulation durch psychopathologische Filme.

Das bedeutet aber auch nicht automatisch, dass sie nur Liebesromanzen von Rosemunde Pilcher verdauen können.

Die neuesten Gruselnachrichten dringen bei einer Orange nicht so einfach zu ihrem sanften Kern vor. Das liegt per se in ihrer Natur. Dafür kann es vorkommen, dass ihr ein Sack Hufeisen vor die Füsse fallen muss, damit ihr Glücksempfinden ausreichend stimuliert wird. Zudem konnte noch nie beobachtet werden, wie sich eine Kiwi langsam in eine Orange verwandelt, nicht einmal wenn sie regelmässig dem Horror frönt. Anpassungsleistungen an Umweltveränderungen sind hingegen jederzeit möglich. Dünnschalige Früchte mit Verstand nutzen hierzu möglicherweise mit wenig Aufwand den sinnlichen Genuss von all dem, was noch immer schön ist, um sich vom Schrecken schnell zu erholen.

Die Studie hat nicht untersucht, welche Charaktertypen nun im Allgemeinen mit mehr Leichtigkeit durchs Leben wandeln.

Wie dem auch sei – jede reife Frucht für sich ist ein Genuss und die gute Mischung macht den Fruchtsalat schaurig süss.

(erschienen im Magazin «Die Ostschweiz», No. 4 / 21)

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