Merkwürdiger Weise kommt es mir vor, als hätte ich erst gerade gestern über einen geeigneten Inhalt für eine Kolumne zum Jahresende hin nachgedacht. Damals hatte ich vorgeschlagen, sich fürs neue Jahr eine Frage zu überlegen, vor dessen Antwort man sich selbst scheut.
Welche Frage könnte ich mir stellen, um herauszufinden, ob dies ein wertvolles und vielleicht auch erfolgreiches Jahr für mich war?
Müsste ich mich vielleicht fragen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass die Zeit scheinbar vorüberflog?
Eine Frau hat mir mal erzählt, dass es für sie schwierig sei, sich an das vergangene Jahr zu erinnern, weil sie sich zurückgezogen und kaum an speziellen Events teilgenommen habe. Sie habe auch keine neuen Orte auf dieser Welt entdeckt. Es stimmt schon, besondere Erlebnisse reissen uns aus der Monotonie unseres Alltags, daher erinnern wir uns gerne an sie. Sie lassen uns für einen kurzen Moment aus dem Rädchen hüpfen. Aber dann springen wir gleich wieder auf, noch bevor es zum Stillstand kommt. Dabei wäre dies die beste Gelegenheit, sich anschliessend in eine andere Richtung zu bewegen.
Wenn etwas immer gleich klingt, achten wir mit der Zeit nicht mehr darauf.
Ich frage mich deshalb auch, ob ich selbst einzelne Momente zu wenig bewusst wahrgenommen oder ihnen zu wenig Bedeutung beigemessen habe.
Kürzlich war ich mit der Familie auf einem Herbstschwaziergang mit Freunden bei herrlichstem Wetter. Da ist mir ein grosser Ahornbaum aufgefallen und ich dachte so bei mir: «Von dem können wir lernen alles loszulassen.» Dabei dachte ich eher an all das, worauf ich gerne verzichtet hätte in diesem Jahr. Doch dann drängte sich ein neuer Gedanke auf: «Der lässt auch alles los, was farbig und golden leuchtet.»
Was für ein Jahr es also auch immer war: Unsere Zeit auf diesem einzigartigen Fleck im Universum ist einfach zu kurz, um sie tot zu schlagen. John Lennon singt: Let it be…auch wenn die Nacht voller Wolken ist...ich wache mit dem Klang von Musik auf. Wir sollen es uns nicht so zu Herzen nehmen. Und in Bezug auf das Loslassen von schönen Erinnerungen fällt mir ein weiser buddhistischer Rat zu diesem Songtext ein:
Lass einen wundervollen Klang wieder los, sonst wirst du nie den Genuss des gesamten Liedes erfahren.
So oder so - Let it be, dieses Jahr!
(erschienen im Magazin «Die Ostschweiz», No. 5 / 21)
Comments